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Der Schein des Seins

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Von Andreas Urs Sommer

Jetzt müsse man verhindern, dass die «Finanzkrise» auf die «Realwirtschaft» übergreife. So hört man es unisono aus dem Munde jener Weltwirtschaftshüter, an deren Eignung zum Hütedienst wir kleinen Fische im Haifischteich mittlerweile erheblich zweifeln.

 

 

Der Schein des Seins: Über den Crash der Finanzmärkte und die Virtualität von Werten

Realwirtschaft? Heisst das also, dass der Realwirtschaft eine Irrealwirtschaft gegenübersteht oder doch wenigstens eine Surrealwirtschaft? Ein Blick ins Lehrbuch belehrt zwar darüber, dass man unter «Realwirtschaft» jenen Teil des ökonomischen Gesamtgeschehens verstehe, der sich mit der Produktion und der Verteilung realer Güter beschäftige. Ihr steht weder die Irreal- noch die Surrealwirtschaft gegenüber, sondern nur die Finanzwirtschaft, die die Realwirtschaft mit dem notwendigen Geld ausstatte. Diese Finanzwirtschaft freilich scheint sich mit ihren waghalsigen Praktiken, faule Immobilienkredite als Topanlagen in Zertifikaten zu verbriefen, tatsächlich in eine Irrealwirtschaft oder in eine Surrealwirtschaft verwandelt zu haben. In eine Irrealwirtschaft, insofern den schönen Zertifikaten kein realer Geldwert entspricht – in eine Surrealwirtschaft, insofern die fleissigen Zertifizierer eine Art Überrealität schaffen zu können meinten, in der einzig und allein ihre Traum- und Rauschwunschbilder das Geschehen bestimmen sollten.

Die Krise wäre dann, so die Unterstellung der Weltwirtschaftshüter, nichts weiter als das Resultat skrupelloser Machenschaften einiger gewinnberauschter, traumtänzerischer Banker: auf der einen Seite die Realwirtschaft, die wirkliche Welt, das Sein, wir (fast) alle, die unverschuldet in den Strudel hineingerissen werden, auf der anderen Seite hingegen ein paar bonusüberfütterte Finsterlinge, die sich dem schönen, aber falschen Schein verschrieben und die Welt, unsere Welt unter Wert verhökert haben.

Man könnte sich also zurücklehnen. Eine verlässliche Grenze zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Wahn, beruhigt die aufgestachelten Gemüter, die sich auf der Seite des Seins, der Realwirtschaft wähnen: Blasen müssten eben platzen, und dahinter würde dann sichtbar, was wirklich ist, das Sein. Auf das Schein-Blasen-Platzen vertrauen die Philosophen, seit es sie überhaupt gibt, seit Platon. Jenseits des Scheins gibt es ein Sein, dem der Schein nichts anhaben kann, behaupten sie seit zweieinhalbtausend Jahren. Wir haben im Gefolge der Philosophen zu glauben begonnen, dass es eine solche Unterscheidung zwischen Sein und Schein nicht nur gebe, sondern auch, dass wir selbst beides säuberlich zu unterscheiden im Stande seien. Wenn wir also die ungedeckten Wechsel auf Rausch-, Traum- und Scheinillusionen kassieren, wenn wir die Hypotheken-Zertifikate verbrennen, unser Geld in Goldbarren anlegen, um uns so im Haus des Seins einzurichten, dann kann uns keine globale Finanzkrise mehr schrecken.

Aber so richtig gemütlich wird es beim Zurücklehnen nicht. Nach einer halben Stunde schrecken wir hoch, eilen zum PC und überprüfen, ob das, was wir für so sicher hielten, auch wirklich sicher ist. Wir starren auf die Kurse – grün oder doch leider, leider rot? – und stellen fest, dass die Goldbarren, die unseren Lebensabend sichern sollen, ebenso den Konvulsionen des Marktes ausgeliefert sind wie die Aktien der Hypo Real Estate. Der Schein scheint auch hier das Sein, an das wir uns klammern, unerbittlich einzuholen. Wie kann es sein, dass sich ständig der Wert einer Sache ändert, ohne dass diese Sache sich in ihrem Wesen verändert? Weder die Ordnungszahl im Periodensystem (79) noch die Atommasse (196,966569 u), weder die jährliche Fördermenge (2500 t) noch die Nachfrage als Schmuck-, Industrie- oder Anlagemetall ändern sich im Minutentakt, so dass sich dem Laien einsichtig machen liesse, weshalb der Kurs für eine Feinunze Gold um 11.16 Uhr bei 917 Dollar, um 11.33 Uhr aber nur noch bei 841 Dollar liegt.

Halbwegs ist man ja noch zu verstehen bereit, dass Unternehmensmeldungen (der erwartete Reingewinn im vierten Quartal, das Volumen der Bestellungen aus China) oder gesamtwirt- schaftliche Neuigkeiten (die Zunahme der Arbeitslosenzahlen, die Staatsgarantie für Spareinlagen) Aktienkurse zu beeinflussen vermögen. Weshalb aber bricht der Kurs eines weltweit agierenden Nahrungsmittelkonzerns binnen zweier Wochen um 42 Prozent ein, ohne dass wesentliche Unternehmensmeldungen oder gesamtwirtschaftliche Neuigkeiten dazugekommen wären? Weshalb kann der Wert einer Sache nicht wenigstens so lange festgeschrieben werden, bis sich an den Faktoren, die ihren Wert bestimmen sollten, irgendetwas ändert?

Der ehrliche Versuch, uns zurückzulehnen und dem Schein-Blasen-Platzen ruhig zuzusehen, erweist sich rasch als gescheitert. Der Schein kratzt nicht nur an der Tür des Seins wie der Wolf an der Tür der sieben Geisslein, sondern hat das Haus des Seins mit hohen Hypotheken belehnt. Auch der Parameter aller Wertvergleiche selbst, das Geld, ist keineswegs ein sicherer und fest gegründeter Wert, ein wahres Sein, von dem sich aller Schein als niedere Schwundstufe ableiten lässt. Erstens gibt es «das» Geld ohnehin nicht, sondern nur alle möglichen Erscheinungsweisen und Massen von Geld: Münzgeld, Papiergeld, Buchgeld, diverse Währungen, diverse Verschreibungsformen, diverse Mengen. Zweitens stehen diese unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Geldes, das es als «das» Geld nicht gibt, in höchst instabilen Wechselverhältnissen zueinander: Wer Papiergeld hat, will möglicherweise kein Buchgeld, wer die Währung X besitzt, will dafür auf keinen Fall Währung Y. Drittens sind die Wechselverhältnisse zur Nicht-Geld-Welt gleichermassen instabil: Die «Realgüter» Salate, Bahntickets und Einfamilienhäuser haben zwar ihren Geldwert, der immer wieder neu festgelegt wird, aber Geld hat auch einen Weltwert – oder eben nicht: Gegen simbabwische Dollar will beispielsweise niemand seine Salate, Bahntickets und Einfamilienhäuser eintauschen, weil dieses Geld schlicht keinen Weltwert mehr hat.

Endgültig aus der Ruhe gebracht, drängen sich uns ein paar Folgerungen auf: Geld hat offenbar keinen Realwert, sondern nur einen virtuellen Wert, Möglichkeitswert: Man kann mit ihm, je nach der Art oder der Menge, in der es vorhanden ist, vielerlei tun. Man kann es in Salate, Bahntickets und Einfamilienhäuser umwandeln – und noch in einiges mehr. Wenn in diesen Tage gerne gesagt wird, es sei in den amerikanische Hypotheken-Zertifikaten nur virtuelles Geld verbrieft gewesen – und was beim grossen Crash verloren gehe, sei eigentlich auch nur virtuelles Geld –, wird man nüchtern dagegen halten, dass Geld ohnehin immer virtuell ist. Es scheint, als ob diese Virtualität auch das Vermögen, plötzlich zu verschwinden, in sich schliesse. Wie wollten wir, wenn uns ein Kind fragt (oder wir uns selber fragen), auf andere Weise erklären, wohin die Billionen verschwunden sind, die nach Ausweis der Kurstabellen verschwunden sind?

Was bedeutet Wirklichsein?

Ist es mit anderen Werten anders? Sind sie wirklich oder virtuell? Was bedeutet Wirklichsein? Immerhin kann man Salate, Bahntickets und Einfamilienhäuser anfassen; es gibt sie, im Unterschied zum Buchgeld, in der Welt der makrophysikalischen, raum-zeitlichen Gegenstände. Aber auch ihr Wert ist virtuell – und zwar nicht nur, weil ihr Geldwert von wechselnden Marktbedingungen abhängt. Ihr Wert ist virtuell, weil dieser Wert in höchst Unterschiedlichem liegen kann, das wiederum von jedem höchst unterschiedlich geschätzt wird: Manche Menschen werden Salat hoch schätzen, weil er ihnen so gut schmeckt, andere, weil er gesund ist, wieder andere, weil er so schön grün ausschaut. Schliesslich gibt es auch noch die ausgesprochenen Salat- Hasser, die keinen Pfifferling auf Salat geben – egal, ob zum Essen oder zum Anschauen.

Wert gibt es mit anderen Worten nicht an sich – er ist Verhandlungssache oder, wer es vornehmer ausgedrückt haben möchte, ein Kommunikationsgeschehen. Wenn jeder Gold für zu schwer hält, um zu irgendetwas nütze zu sein – nicht einmal industriell ist es sinnvoll zu verwenden wie Silber oder Palladium –, dann hilft ihm sein ganzer Glanz so wenig wie seine viertausendjährige Kulturgeschichte: Wie Blei wird es denen auf der Seele liegen, die sich noch mit ihm beschweren. Vielleicht hatte der Philosoph Martin Heidegger eigentlich genau dies gemeint, als er raunte, die Sprache sei das Haus des Seins: Vielleicht meinte er, das Sein sei Verhandlungssache – sei ein notorisch instabiles Resultat unserer Verständigungsbemühungen.

Auch wenn es Mode geworden ist, die Scheinwirtschaft anzuklagen und eine Seinwirtschaft einzufordern, verhaält es sich doch so, dass wir alle den Schein wollen. Das ist, entgegen zweieinhalbtausendjähriger philosophischer Lehrmeinung, keineswegs ein Zeichen für unsere Oberflächlichkeit und Dekadenz, sondern viel eher dafür, dass wir dem Gegensatz von Sein und Schein gründlich zu misstrauen gelernt haben. Man könnte sagen, die Börse sei die Speerspitze in der Entwicklung menschlicher Erkenntnis: Indem sie jede Sache zu jedem Augenblick in ihrem Wert neu bestimmt, macht sie unmittelbar augenfällig, dass es kein Sein im Sinne von etwas statisch Feststehendem gibt. Der Gegensatz von Schein und Sein ist nur ein scheinbarer; was ist, ist wandelbar, verhandelbar, endlich.

Dabei spielt es keine Rolle, ob wir dieses Wandelbare, Verhandelbare, Endliche Sein oder Schein nennen. Entscheidend ist, dass wir alle dieses Wandelbare, Verhandelbare, Endliche wollen. Wir steigen nicht nur in Gestalt von Avataren in die Parallelwelten des Internets hinab, um unseren Möglichkeitssinn, die Genüsse des Anderssein auszukosten, sondern kaufen (zumindest, wenn wir Amerikaner sind) mitten in der Krise nicht nur Gold in Massen, sondern auch – Fernseher. Um so wenigstens den Schein auf sicher zu haben.

Es gibt keinen Ausstieg aus dem Schein und kein Zuruück zum Sein – es gibt keine ewigen Werte, weder ökonomisch noch politisch, weder moralisch noch metaphysisch. Die Konvulsionen des Scheins machen uns misstrauisch – gerade jetzt, wo die Scheinbarkeit des Seins unentwegt über die Bildschirme flimmert. Was ist denn beispielsweise mit dem Sein nicht nur von Banken, Aktien, Salaten und Einfamilienhäusern, sondern mit dem Sein des Ichs? Wäre es schlimm, wenn es nur ein Schein wäre – und was würde das bedeuten?

Möglicherweise müssen wir uns dauerhaft im Schein einrichten. Zu erkennen, dass es kein Sein hinter dem Schein mehr gibt, markiert einen Epochenbruch in der westlichen Mentalitätsgeschichte, in der seit den Griechen auf das Sein abgehoben wurde. Seit immerhin 200 Jahren ist dieser Bruch im Gange. Vielleicht ist der Kapitalismus mit seinen Katarakten ja der Lehrmeister der Menschheit. Die Börse als Geburtshelferin der Einsicht, dass alles immerzu dem Wandel unterworfen ist – dass nichts wirklich, aber alles möglich ist.

Wer sich dennoch in Selbstberuhigung üben und sich à tout prix zurücklehnen will, mag sich mit dem Trost behelfen, dass, wenn alles Schein ist, auch die Krise nur Schein sei. Am Ende war doch da gar nichts. Nur ein Kammerflimmern? 

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