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Iwan Gontscharow, Oblomow

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Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 1980

 

Wir schreiben das Jahr 1859. In Russland herrscht Frieden. Vor gerade einmal vier Jahren ist Alexander II. an die Macht gekommen. Dieser Zar wird umfassende Reformen durchführen – und durch die Bombe eines Attentäters sterben. Denn in Russland glaubt niemand mehr, dass Zar und Adel eine politische Besserung bringen können. Sie sind diskreditiert, und dazu haben Romane wie der im Jahr 1859 erschienene „Oblomow“ beigetragen.

 

Denn Oblomow ist geradezu die Karikatur eines russischen Adligen. Von keinerlei Notwendigkeit gezwungen, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, verbringt er das Leben im Müssiggang. Was heisst Müssiggang? Oblomows Verhalten gemahnt geradezu an eine Schnecke in Zeitlupe. Die ersten 50 Seiten des Buches sind seinem Weg vom Bett zum Stuhl gewidmet! Der Mittagsschlaf ist der bestimmende Lebensinhalt des Titelhelden. Das ändert sich auch dann nicht, als Oblomow beinahe sein Vermögen verliert. Es ist sein Freund Stolz, die Inkarnation des modernen Tatmenschen, der für ihn auf sein Gut reist, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Und während der die Verwaltung übernimmt, die Braut Oblomows heiratet und sich ein eigenes Leben aufbaut, liegt sein Freund Oblomow im Bett, geniesst die gute Küche der Wirtin und versinkt vollends in Lethargie.

 

Was uns wie eine relativ langweilige Geschichte erscheinen mag, schlug 1859 ein wie eine Bombe. Die Geschichte war nämlich stimmig. Die Typen unglaublich gut getroffen. Kein Wunder, der Autor kannte Menschen wie Oblomow aus erster Hand. Schliesslich gehörte sein Grossvater zum erblichen Adel, so dass Gontscharow den Vorbildern seines Oblomows bei Tanztees und Soireen begegnete. Er verglich die gelangweilten Nichtstuer mit seiner Mutter, die den Getreidehandel der Familie nach dem Tod des Vaters übernommen hatte und mit ihrer Tüchtigkeit den Lebensunterhalt aller verdiente.

 

Berühmt machte das Buch ein politischer Essay, getarnt als Buchbesprechung. Darin interpretierte ein russischer Revolutionär Oblomow als einen Schlüsselroman für die politische Lage Russlands. Oblomow sei der herrschende Adel, dessen Lethargie Russland in den Ruin treibe. Der Tatmensch Stolz sei der fortschrittlich denkende Bürger, dessen wohl überlegte Aktivitäten Russland heilen würden. Die russische Gesellschaft könne gar nicht schnell genug ihre Oblomows loswerden, um endlich Platz für die Stolzens zu schaffen.

Dieser viel gelesene Essay prägte den Begriff des Oblomowtums. Er wurde zu einem Vorwurf – und einem politischen Schlagwort, das jede Form der Revolution rechtfertigte. Denn war es nicht sogar im Interesse des Adels, ihm sein Hab und Gut zu nehmen und ihn so zu einem aktiven Leben zu zwingen? Wer würde wie ein Oblomow leben wollen?

 

Iwan Gontscharow akzeptierte diese Deutung, auch wenn er sie vielleicht beim Schreiben so nicht beabsichtigt hatte. Ihm war es genauso um die Charakterisierung eines bestimmten Menschentyps gegangen, dem er ständig begegnete. Immerhin bezeichnet die Psychologie noch heute einen willensschwachen Neurotiker, der apathisch, faul und parasitär lebt, als Oblomow.

 

Individuelles Versagen oder Zeichen der Zeit? Ist Oblomow für seine Epoche vielleicht genauso typisch wie der vom Burnout geplagte Perfektionist für unsere Gegenwart? Nichts könnte unserem Denken fremder sein als der entscheidungsschwache Oblomow. Und gerade deswegen bringt er uns zum Nachdenken über unseren ständigen Drang, das eigene Soll zu übererfüllen.

 

Ursula Kampmann

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